Von Annegret Zimmer zuerst erschienen in unserer Verbands-Zeitschrift Tarot Heute Ausgabe 65 Januar 2020 www.tarotverband.de/tarot-verband/tarot-heute-die-zeitschrift

Hallo Herrscher,

deinen Job möchte ich wahrlich nicht übernehmen. In jeder Tarotlegung mahnst du Ordnung und Struktur an und machst dich damit je nach Fragestellung und Kartenkontext oftmals mehr oder weniger unbeliebt. Wenn du auftauchst, ist Schluss mit lustig, und das oft genug zu Recht. Bitte versteh‘ aber auch uns Fragesteller! Wenn wir die Tarotkarten zu Rate ziehen, um unser Leben besser zu verstehen und zu gestalten, wünschen wir uns ja Impulse, die uns die Freiheit vermitteln loszulegen, etwas zu tun, aktiv zu werden, kreativ zu sein. Wenn du uns dann die Regeln unter die Nase hältst, fühlen wir uns in unserem Taten- und Entwicklungsdrang gleich wieder eingeengt, auch wenn wir natürlich wissen, dass wir nicht im luftleeren Raum agieren und deshalb umsichtig und rücksichtsvoll handeln sollten. Doch in der Situation, in der wir uns da gerade befinden, ist deine Mahnung absolut nicht das, was wir hören wollen. Wir wünschen uns so sehr ein Signal zum Aufbruch, und du machst es uns nicht eben einfach.

Natürlich, du bist kein simpler Moralapostel. Um dei-ne Bedeutsamkeit zu begreifen, sollten wir uns lieber auf dich einlassen, anstatt dir und deiner Botschaft aus dem Wege zu gehen. So mancher Tarotkenner hat in dir weit mehr erkannt als einen Gesetzgeber und Ordnungshüter. So sehen dich viele in einer Reihe mit dem Magier, der Hohepriesterin und der Herrscherin. Gemeinsam, so sagen sie, stellt ihr vier Prinzipien dar, mittels derer der Mensch versucht, seine Umwelt zu verstehen und zu beherrschen: Repräsentiert durch Magier und Hohepriesterin, treffen Magie und Mystik, mit deren Hilfe Menschen versuchen, Einfluss auf die Welt zu nehmen, auf die allgegenwärtige, mächtige Natur in Gestalt der Herrscherin – sowie eben auf dich als das Sinnbild der Kultur, in deren Rahmen sich das menschliche Zusammenleben gestaltet. Auch mit anderen theoretischen, praktischen, symbolischen, phi-losophischen und psychologischen Vierheiten, von den Jahreszeiten und Himmelsrichtungen bis zu Sym-bolsystemen aus der Alchimie und Wesenstypen der Menschen, hat man euch in Verbindung gebracht. Zugegeben, das ist ein wenig verwirrend, vielleicht sogar für dich selbst.

Denn eigentlich bist du ein unkomplizierter Typ, streng zwar, aber nicht prinzipiell finster oder un-freundlich. Deine Ansagen sind klar und leicht zu ver-stehen, und du gehörst zu jenen Charakteren aus der Reihe der Großen Arkana, die uns mit ihrer Message direkt von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. In der Geschichte von der Großen Reise bist du der weltliche Vater, der an den Reisenden, dargestellt durch den Narren, als Erster anspruchsvolle Forderungen stellt und ihm vor der Abreise noch das dicke Gesetzbuch in sein Bündel packt, bevor er ihm auf die Schulter klopft und Lebewohl sagt. Es ist anstrengend, deinen Forderungen gerecht zu werden, und es wird noch eine Weile dauern, bis der Narr begreift, dass er dir und deinen Lebensregeln felsenfest vertrauen kann.

Manchmal fühle ich mich auch jetzt noch, längst er-wachsen und im vorgerückten Alter jenseits des ju-gendlichen Sturms und Drangs, wie dieser Narr. Wenn ich mich dann im Aufbruch oder schon auf dem Weg befinde und fröhlich drauflos marschieren möchte, erwischen mich deine Vorgaben kalt. Dann kann ich jeden Jugendlichen verstehen, der gegen dich rebelliert, und habe selbst wenig Liebe für dich übrig. Überhaupt frage ich mich, wie man einen Vater wie dich lieben kann.

Letztens schenkte mir eine Freundin das Kartenset „Stille heilt“. Es hat nichts mit Tarot zu tun, darum fand ich, es sei den Versuch wert, ob mir diese „Au-ßenstehenden“ zu einer neuen Einsicht verhelfen könnten. Also zog ich eine Karte, um eine Antwort auf diese Frage zu finden, wie wir, du und ich, Herrscher, besser miteinander zurechtkommen können. Und ich bekam eine Antwort! „Beschützer“ heißt die Karte, die ich zog. Schon dieses Wort half mir auf die Sprünge. Ein neuer Aspekt deines Wesens tat sich auf, und dein Gesicht begann sich zu verändern. (Wobei sicher auch eine Rolle spielt, dass diese Karte die Beschützerkraft in weiblicher Gestalt zeigt.)

Dann fiel mir auch wieder ein, was ein Freund mir vor langer Zeit über dich gesagt hat: „Der Herrscher ist ein gütiger, weiser König.“ Ein König, der Zusammenhänge versteht und weiß, was für sein Reich am besten ist. Dir geht es um das Wohl und den Schutz aller in deinem Reich und nicht allein um dich und mich. Als König bist du nicht nur streng, sondern auch freundlich, hast in dieser Hinsicht viel mehr vom liebevollen König der Sefira Chesed an dir, als von einem strengen Geburah-Herrscher. Natürlich musst du manchmal reglementierend eingreifen und kontrollieren und kannst nicht jeder Entwicklung und jedem Trend ihren Lauf lassen. Wenn ich mich nach deinen Regeln richte, ordne ich meine Wünsche, Träume und Bestrebungen nicht dir unter, sondern dem Wohl aller. Wenn ich auf etwas verzichte, erhalte ich dafür im Gegenzug Schutz und Geborgenheit. Meine Angst lässt nach und mein Selbstvertrauen kann wachsen.

Wer lebt wohl sicherer und unbeschwerter als jemand, der unter dem besonderen Schutz eines Königs steht? Jemand, der sich der Zuneigung und Treue eines Vaters sicher sein darf! Danke dir, Herrscher, dass du mir zuhörst und immer wieder mit mir Geduld hast.

Abbildung Ancien Tarot de Marseille © Cartomancie Grimmault