Für geliebte Menschen, die mir fehlen 

Artikel erschienen in Tarot Heute  19/10 

Ein Jahrzehnt ist vergangen, seit meine geliebte Freundin Kristina verstarb. Mit gerade einmal sechzig Jahren wurde sie in nur wenigen Monaten von jener schweren Krankheit aus dem Leben gerissen, die sie immer so gefürchtet hatte. Kurz nachdem Kristina die Chemotherapie abgebrochen hatte, bat sie uns, ihr die Karte XIII Dornröschen aus dem Tarot für das Innere Kind ganz groß zu kopieren. Wir scannten und druckten das Bild so groß und farbenfroh, wie es uns nur gelang. Und dieses Bild, das sich Kristina ausgewählt hatte, um den herannahenden Tod zu akzeptieren, schenkte auch uns Trost, die wir unsere Freundin gehen lassen mussten.

Nach zehn Jahren habe ich das eigenartige Bild nun wieder zur Hand genommen. Damals hat es mir Rätsel aufgegeben. Heute merke ich, dass ich sie immer noch nicht lösen kann, heute, zehn Jahre älter und vielleicht auch weiser. Kann man das Rätsel des Todes überhaupt lösen?

Die Geschichte ist bekannt: Ein König feiert die Geburt seiner Tochter und lädt auch die Feen des Landes zum Fest ein. Da die goldenen Teller nur zwölf an der Zahl sind, wird die dreizehnte Fee kurzerhand ausgeladen. Dennoch erscheint sie zum Fest und bestimmt aus Zorn über diese Missachtung, dass die neugeborene Tochter des Königs mit vierzehn Jahren sterben muss. Doch die zwölfte Fee hat an das Kind noch kein Geschenk übergeben. Sie erbarmt sich und wandelt den Fluch, der nicht aufgehoben werden kann, in einen hundertjährigen Schlaf um. Zum vorherbestimmten Zeitpunkt kommt der Schlaf nicht nur über das Kind, sondern auch über alle, die bei ihm sind. Eine schützende Rosenhecke wächst um das Schloss, und alle fallen in Vergessenheit. Erst nach Ablauf der vorhergesagten einhundert Jahre beendet das Eintreffen des Prinzen, der die nun nicht mehr benötigte Rosenhecke durchbricht und das Mädchen wachküsst, diesen Schlaf, und alle leben glücklich weiter.

Doch hier nimmt die Dornröschen-Karte die Position XIII ein, also die eines Schlafs, aus dem man nicht mehr erwacht, nicht nach einer Nacht, nicht nach einhundert Jahren, niemals! Wo bleibt da die Barmherzigkeit der zwölften Fee? Wo der rettende Prinz?

Das Bild ist ganz anders als das Märchen. Wir sehen das junge Mädchen nicht beschützt von einer Rosenhecke, sondern auf einem Bett aus Mohnblumen liegend, den Blumen des Schlafs. Stehen diese Blumen nicht auch für jene Droge, die die Schmerzen meiner Freundin am Ende ihres Weges gelindert hat? Hier gibt es also keine Rosen, die man einfach entfernen muss, um festzustellen, dass die schöne Frau nur schläft. Stattdessen sehen wir einen See und eine Brücke. Oder ist es eine Staumauer, die verhindern soll, dass das tieferliegende Land überflutet wird? Ist das ein See aus Tränen? Verhindert die Mauer, dass uns das Leid hinweg schwemmt? Und wer ist die Gestalt, die sich auf einem weißen Pferd vom Himmel herabschwingt und Sternenstaub über die Schlafende ausstreut? Sicher, das Reittier erinnert an den Prinzen, doch eine Verwechslung ist ausgeschlossen. Der Prinz würde übers Land heranreiten und ein Schwert zücken, um sich durch die Rosen zu kämpfen. Hier gibt es aber keine Rosen, sondern nur Mohnblumen und Wasser! Auch trägt die reitende Gestalt zwar ein Diadem, aber ihr Haar ist lang und ihr Arm zart. Hat sich der Prinz hier – ob der Unumkehrbarkeit des ewigen Schlafes willen – in die zwölfte, barmherzige Fee verwandelt, hier wo ein Aufwachen ausgeschlossen ist? Bringt sie der Entschlafenen Frieden und schöne Träume?

Wohin weht dieser Sternenstaub? Auf die schlafende Frau? Auf das Wasser? Gar bis zu uns, die wir das Bild betrachten? Wir sehen einen lieben Menschen, der nun nicht wieder aufwacht, einen See aus Tränen, der den Sternenstaub aus Liebe und schönen Erinnerungen auf seiner Oberfläche trägt. Und wenn die Zeit des akuten Schmerzes vorüber ist, sich die Schleusentore der Tränen allmählich schließen, bemerken wir, dass die geliebte Person in unseren Erinnerungen und Träumen immer noch bei uns ist. Weiterlebt – zehn Jahre, hundert Jahre, für immer, wenn wir es zulassen. Die Gabe des Sternenstaubs, von der barmherzigen Fee freigiebig geschenkt, hat uns erreicht.

Ich weiß nicht, was Kristina in ihren letzten Stunden erlebt hat, ob sie verzweifelt war oder apathisch, ob sie sich auf den Schlaf gefreut hat und ob dieses Bild ihr immer noch Trost gespendet hat. Für mich ist diese Karte nun zu einem kleinen Eckchen jenes Schleiers geworden, der das Rätsel des Todes vor mir verbirgt. 

Ein Jahrzehnt ist vergangen, seit im Jahr 2009 drei Menschen entschliefen, die mir viel bedeutet haben. Im Gedenken an Euch und mit dieser wunderschönen Karte habe ich nun ein wenig von dem Sternenstaub eingeatmet, und er hat eure Gesichter und eure Liebe in meinem Herzen aufleben lassen, wo immer Euer Platz ist.

Abbildungen aus dem Tarot für das innere Kind © Silberschnur Verlags GmbH